Die so genannten „Lohas“ – Menschen, denen Nachhaltigkeit, Moral, Qualität und Genuss gleichermaßen wichtig sind – gelten als die entscheidende Konsumentenschicht der Zukunft. In Wien sind sie das schon heute.
Die Trendforscher und Meinungsbildner lieben sie: Die „Lohas“, kurz für „Lifestyle of health and sustainability“, also jene Menschen, bei denen Lifestyle zwar eine große Rolle spielt, die darin aber Werte wie Gesundheit, Nachhaltigkeit und eben generell das gute Gewissen durchaus integriert sehen wollen. Sie gelten als Zukunftsmarkt, da sie einerseits Spaß am Konsum haben, ihnen außerdem Qualität sehr wichtig ist und sie drittens bereit sind, diese Qualität sowohl zu suchen als auch zu bezahlen – drei Punkte, die für Marketing-Experten mit Blick nach vorne eine nicht unwesentliche Rolle spielen.
Seinen Anfang nahm dieser Trend zweifellos in den USA, wo in Berkeley, San Francisco und Seattle während der späten 90er-Jahre Teile der pragmatischen Grün- und Umwelt-Bewegung den Reiz des gehobenen Lebensstils entdeckten: trendige Designerkleidung, neue Kommunikationsformen dank moderner Technik (Stichwort Smartphones, Internet-Blogs), sanfter Tourismus, kontemporäre Architektur („Niedrigenergie-Häuser“) und natürlich das gute Essen. Und genau dieser Themenbereich stellte sich sehr rasch als besonders fruchtbar für die Freunde der Nachhaltigkeit, der Ethik und der Gesundheit sowieso heraus: biologische Nahrungsmittel, kurze Wege und kleine Einheiten, Bewahrung von verschwindenden oder fast vergessenen Rezepturen und Produkten (wie sie etwa die von Italien ausgehende Bewegung „Slow Food“ mit ihren Programmen „Terra Madre“ und „Arche des Geschmacks“ propagieren), fairer Handel und artgerechte Tierhaltung ließen eine komplett neue, urbane Gastronomie entstehen, in der Genuss und gutes Gewissen mit großem Spaß und reichlich Kreativität kombiniert wurden.
Für eine Stadt, in der man auf kulinarische Tradition enormen Wert legt, und in der ja eigentlich üppige Fleischgerichte als die Krönung des kulinarischen Genusses gelten, war Wien sehr früh bei diesem Trend mit von der Partie. Bio-Läden und Naturkostgeschäfte bilden vor allem in jenen Bezirken, die mehrheitlich von jungen, intellektuellen und selbständigen Leuten bewohnt werden – genannt seinen hier das Karmeliterviertel im 2. Bezirk, die Gegend um den Naschmarkt im vierten, fünften und sechsten Bezirk, der Spittelberg, Wiens Bohemièn-Zentrum im siebenten Bezirk, und die stark studentisch geprägten Vierteln im achten und neunten Bezirk – einen wesentlichen Bestandteil der Nahversorgung. Gerade in den vergangenen Jahren veränderte sich diese Szene merklich vom Nischensektor des alternativen Jute-Paradieses zum qualitätsorientierten Genuss-Ausstatter von kontemporärem Zuschnitt. Neben einem flächendeckenden Angebot von Obst, Gemüse und vor allem Milchprodukten in sämtlichen österreichischen Supermarkt-Ketten schon seit den frühen 90ern entstanden in den vergangenen Jahren auch spezielle und spezialisierte Bio-Supermärkte und die Wiener Märkte erfuhren ein strahlendes Comeback.
19 solche Märkte – von sehr kleinen, mit nur wenigen Ständen ausgestatteten Märkten bis zu weitläufigen Genuss- und Frische-Oasen mit Komplett-Angebot – gibt es in Wien derzeit. Und diese Märkte erweisen sich nicht nur als lebendiger denn je, sie wurden auch als kulinarischer Lebensmittelpunkt der „ Lohas“ entdeckt. Entsprechend schossen die schicken Lokale, die „moralischen Hedonismus“ (wie Eike Wenzel von Matthias Horx’ „Zukunftsinstitut“ es definiert) feilboten, rund um den Naschmarkt, den Karmelitermarkt, den Rochusmarkt und den Yppenmarkt nur so aus dem Boden. Am Naschmarkt, Wiens prominentestem und zweifellos am besten sortierten Markt, sowie am Karmelitermarkt wurden 2007 außerdem noch so genannte Bio-Ecken eingerichtet, wo bäuerliche Kleinerzeuger aus der näheren Umgebung Wiens am Samstag den direkten Kontakt zu ihren städtischen Loha-Kunden finden. Alte Gemüsesorten zu shoppen, zählt mittlerweile also zum Freizeitvergnügen, man trinkt edlen Espresso von fair gehandelten Kaffeebohnen und knabbert an biologischen Salzgurken alter, vergessener Sorten – Wien lässt sich’s gut gehen und hat ein gutes Gewissen dabei.
Aber die berühmte Wiener Küche – ist die denn mit den Loha-Idealen vereinbar? Auf jeden Fall! Denn auch, wenn Wiens Küche zweifellos nicht die leichteste ist und Gemüse auch keine so große Rolle spielt wie bei den mediterranen Küchen, so weist die klassische Wiener Küche dennoch sehr viele Aspekte der Nachhaltigkeit auf: Zu allererst einmal darin, dass es eine multi-ethnische Küche ist, kulinarisches Multikulti, wie man heute sagt. Böhmisch, mährisch, italienisch, jiddisch, ungarisch, bayrisch, türkisch und polnisch – alles mischt sich da zu diesem köstlichen Geschmacks-Universum, mit der es die Wiener Küche zu Weltruhm gebracht hat. Außerdem spielt Authentizität eine große Rolle – Traditionen wurden über viele Generationen bewahrt und gingen in das kulturelle Erbe ein – soziokulturelle Nachhaltigkeit pur und außerdem ein wunderbares Beispiel gelungener mitteleuropäischer Integration auf kulinarischer Ebene.
Ein weiterer interessanter Aspekt ist die Tatsache, dass die klassische Wiener Küche im 18., 19. und frühen 20. Jahrhundert stets eine sowohl herrschaftliche als auch eine der Dienstboten war: Die „guten“ Stücke und edlen Teile wurden für die Obrigkeit zubereitet, während die Köchinnen ein meisterliches Geschick an den Tag legten, aus den Resten grandiose Suppen und Eintöpfe zu kochen oder aus damals weniger gesellschaftsfähigen Teilen wie Lunge, Leber, Nieren und anderen Innereien Köstlichkeiten zuzubereiten, von denen Wiens Gastronomie noch heute profitiert. Und heute, da es bei aufgeschlossenen, interessierten und vor allem verantwortungsvollen Genießern ja durchaus gut ankommt, wenn in den Küchen nicht mehr nur Filets, sondern Tiere möglichst komplett verarbeitet werden, erleben solche archaischen und ur-wienerischen Spezialitäten wie Beuschl (ein Haschee aus Herz und Lunge vom Kalb), Rahmherz, geröstete Nierndln, geschmorte Backerln oder das legendäre Bruckfleisch (ein nicht näher zu definierendes, kräftig gewürztes Ragout aus Dingen, die man eher selten in den Vitrinen des Fleischhauers liegen sieht) wieder eine erstaunliche Renaissance.
Doch auch, wenn Gemüse in der Wiener Küche immer nur eine Nebenrolle spielt, ist Wien in Sachen Feldfrucht überaus bemerkenswert: Und zwar, weil das Wiener Gemüse zum großen Teil tatsächlich in Wien wächst. Knapp 16% der Gesamtfläche der Stadt Wien werden landwirtschaftlich genutzt, das sind mehr als 6.500 Hektar, auf denen Getreide, Gemüse, Obst und nicht zuletzt auch der berühmte Wiener Wein angebaut werden. Von 2001 bis 2006 stieg die Zahl der biologisch bewirtschafteten Flächen in Wien von etwa 300 auf über 1.200 Hektar, 16% der landwirtschaftlichen Nutzfläche Wiens gelten als biologisch – und das ist nicht nur für österreichische Verhältnisse eindrucksvoll (der österreichische Durchschnitt an biologisch bewirtschafteter Fläche liegt bei 11%), für eine Metropole ist das weltweit wohl einzigartig. Nicht ohne Folgen: Nach Erhebungen der international tätigen Mercer Consulting Group hinsichtlich der Lebensqualität von 215 Städten weltweit liegt Wien seit Jahren unter den besten drei Städten der Welt – aktuell weist das Ranking Wien sogar als die lebenswerteste Stadt in der EU auf.
Die Szene der Wiener Lohas-Lokale ist vielfältig und nur schwer über einen Kamm zu scheren, die genüssliche Moral wird überall ein bisschen anders umgesetzt und interpretiert. Das Spektrum reicht etwa von dem zu Beginn des Jahres 2008 eröffneten „Mondscheinstüberl“, in dem Wiener Küche in klassischem Beisl-Ambiente vegan und mit ausschließlich biologischen Zutaten zubereitet wird, bis zu Gourmet-Restaurants wie dem „Kurz“, in dem man der Nachhaltigkeit gerecht wird, indem die Betreiber viele ihrer Zutaten direkt von Erzeugern beziehen, von deren Qualitäts-Philosophie sie sich nach intensiver Recherche überzeugt haben; oder vom Veggie-Pionier Christian Wrenkh, der vegetarischer Küche schon vor über 20 Jahren eine schicke und gestylte Komponente abgewinnen konnte, die er jetzt in Koch-Salons in Wien und Berlin propagiert, bis zu jüngst konzipierten, „revolutionären“ Genuss-Konzepten wie dem „St. Charles Alimentary“.
Dieses absolut winzige Lokal eröffnete Anfang 2007 in der für jegliche Lohas-Cuisine äußerst offene unteren Gumpendorferstraße, und ist insofern besonders, als die beiden Quereinsteiger nur Zutaten verarbeiten, die sie auf Steifzügen durch Wald und Feld selbst gepflückt oder erlegt haben. Dieser Zugang ist derzeit einer der radikalsten in der einschlägigen „Feel good“-Gastronomie Wiens, was die beiden da allerdings mit Kreativität und Fingerspitzengefühl an den Tag legen, ist überaus verblüffend. Oder das neue und sehr erfrischend gestaltete „Tewa“ am Wiener Naschmarkt, in dem Haya Molcho beweist, dass Küche aus biologischen Zutaten und fulminante Aromen aus aller Welt kein Widerspruch sind. Oder Wiens schickster Suppen-Laden Suppito, in dem kraftvolle Power-Suppen nicht nur biologisch, sondern auch nach der chinesischen Lehre der fünf Elemente zubereitet werden.
Ebenso verfährt übrigens auch Sohyi Kim, Wiens beste und bekannteste Vertreterin einer modernen, kreativen Asia-Küche, in ihrem 2007 völlig neu gestalteten Restaurant hinter der Volksoper. Und ein besonders schönes Beispiel der neuen Lohas-Szene ist natürlich auch der „Hollmann Salon“, und zwar nicht nur, weil sich das ausnehmend geschmackvoll gestaltete Restaurant im Heiligenkreuzerhof (ein gut erhaltenes Barock-Ensemble) befindet, sondern auch, weil man sich hier die Vollverwertung von geschlachteten Tieren zum Ziel setzt. Gekauft werden Tiere direkt und als Ganzes beim Bio-Bauern aus der näheren Umgebung Wiens, verkocht werden sie nach alter Sitte von Kopf bis Huf – wobei das dann mitunter auch sehr modern aussieht und schmeckt. Im sympathischen „Noi“ am derzeit gerade sehr hippen Yppenmarkt und im kleinen „Gesundes“ in der Nähe des Karmelitermarktes werden Bio-Laden und zeitgemäße Bio-Küche sehr gut verbunden. Beim Kaffee- und Tee-Händler mit dem größten und besten Sortiment in Österreich, Heissenberger mit seiner edlen Filiale am Kohlmarkt, nimmt biologisch angebauter und fair gehandelter Kaffee einen immer größeren Stellenwert ein. Und in auf den ersten Blick recht urigen und bodenständigen Beisln wie dem „Schreiners“ oder der „Witwe Bolte“ am Spittelberg wird gezeigt, dass echte Wiener Küche aus Zutaten mit kontrollierter Herkunft oder aus biologischer Tierhaltung noch besser schmeckt als sonst. Auch in Wiens jüngstem Prestige-Gasthaus, dem vom erfolgreichen Unternehmer und Neo-Winzer Hans Schmid im Herbst 2007 eröffneten „Pfarrwirt“ in Wien-Heiligenstadt wird ähnlich verfahren: Hier kommt nur österreichische Ware – da allerdings vom Besten – in die Pfannen und Töpfe, für die kreativ umgesetzte und verblüffend geschmackvoll modernisierte Wiener Küche ist das offensichtlich eine gute Voraussetzung.
Apropos Wein: Auch da tut sich Interessantes auf dem Bio- und Nachhaltigkeits-Sektor: Nachdem Wiener Bio-Wein bisher nur eine Angelegenheit kleiner Nischen war, startete im Zuge des aktuellen Booms des Wiener Weins das Weingut des Quereinsteiger-Winzers Stefan Hajszan gleich von Anfang an und mit seinem vollen Programm auf der besonders strikten biodynamischen Schiene. Und mit 2008 stellte auch der beste und bekannteste der Wiener Winzer, Fritz Wieninger, auf diese Methode um, was sicher nicht ohne Folgen für den Wiener Wein bleiben wird. Ein anderes – ebenfalls nachhaltiges, da kulturhistorisch relevant – Thema ist die Wiederentdeckung des so genannten "Gemischten Satz": Bei diesem Wein handelt es sich um ein Überbleibsel einer althergebrachten Auspflanz-Methode, bei der die unterschiedlichen Rebsorten im Weingarten gemischt ausgesetzt wurden, um das Risiko durch Schädlinge oder klimatische Einflüsse zu reduzieren.
Diese urtümliche Methode hat sich eigentlich nur mehr in Wien erhalten und nach Jahrzehnten des Schattendaseins dieses typischen Wiener Weins als schlichter Schankwein wurde er kürzlich wieder von aufstrebenden Wiener Jungwinzern wie Rainer Christ, Richard Zahel oder Jutta Ambrositsch entdeckt. Dank moderner Önologie wird der Gemischte Satz nun auf internationales Spitzen-Niveau getrimmt, die mitunter uralten Weingärten werden rekultiviert und gehegt, und zum ersten Mal nach sechzig Jahren auch wieder ganz in der alten Tradition – nämlich bunt gemischt – ausgesetzt.
Dass Bewusstsein, Verantwortung, Ethik und Gesundheit nichts mit Verzicht und karger Lebensweise zu tun hat, wird einem in Wien jedenfalls ziemlich deutlich vor Augen geführt – und von den Wienerinnen und Wienern vorgelebt. Die Lebensqualität Wiens zählt übrigens zu den höchsten der Welt – vielleicht besteht da ein Zusammenhang.